Neue Studie: Die Energiewende braucht mehr Dezentralität und weniger Netzausbau – und wird dadurch billiger und gerechter

Anhand der Modellierung eines Energiesystems, das den gesamten Energiebedarf an Elektrizität, Wärme und Verkehr zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien deckt, wird deutlich: Dezentralität erspart Netzausbau, und die Systemkosten liegen dennoch nicht notwendigerweise höher. Statt Monopolstrukturen zu begünstigen, erlaubt Dezentralität zudem eine breite Teilhabe. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und die Technische Universität Berlin (TU Berlin) stellen dazu heute auf den Berliner Energietagen eine Energiewende-Studie vor:

  • Der gesamte Energiebedarf Deutschlands an Strom, Wärme und Mobilität kann zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien gedeckt werden – ohne außer-europäische Energie-Importe und auch ohne Wasserstoff-Importe.
  • Die derzeitige Netzausbauplanung ist überdimensioniert, insbesondere aufgrund der Vernachlässigung der Kosten des Netzausbaus bei der Systemplanung; 100 Prozent Erneuerbare Szenarien werden bisher nicht berücksichtigt.
  • Baut man trotzdem das Netz, wie von der Bundesregierung vorgesehen, aus, macht dies die Energiewende erheblich teurer. Zudem fließen mehr Investitionen in Technologien wie Stromtrassen und Offshore-Windparks, die eine breite gesellschaftliche Teilhabe erschweren.

Für die Studie entwickelten die Forscher*innen um Prof. Dr. Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt, und Prof. Dr. Christian von Hirschhausen, Forschungsdirektor am DIW und Professor für Infrastrukturpolitik an der TU Berlin, insgesamt fünf Szenarien.

„Unser Szenarienvergleich zeigt zum einen, dass die Berücksichtigung von Netzinfrastrukturkosten zu einem erheblichen Rückgang des Netzausbaubedarfs führen würde. Dadurch würde die dezentrale Energiewende gestärkt, was wiederum förderlich für die gesellschaftliche Akzeptanz der Energiewende wäre“, resümiert Christian von Hirschhausen. „Leider werden die Netzinfrastrukturkosten bei der Szenarienplanung der Bundesnetzagentur nicht hinreichend berücksichtigt. So lässt Deutschland ein nicht unerhebliches Potenzial zur Reduktion der Systemkosten unerschlossen.“

Neben der systematischen Berücksichtigung von Netzinfrastrukturkosten untersucht die Studie eine Energiewende, in der Erzeugungskapazitäten soweit möglich verbrauchsnah zugebaut werden. Sie vergleicht dieses Modell mit der heutigen Praxis, bei der es keine wirksamen Anreize für einen verbrauchsnahen Zubau von Erneuerbare-Energien-Anlagen gibt. „Unsere Simulationen zeigen, dass ein verbrauchsnaher Zubau den Netzausbau deutlich verringern kann. Er hat zudem Auswirkungen auf die Erzeugungsstruktur: Wir bräuchten mehr Photovoltaik-Anlagen und etwas mehr Batteriespeicher, dafür weniger Windanlagen auf hoher See“, sagt Claudia Kemfert.

Die Studie zeigt zudem die hohe Bedeutung von Energieeinsparungen. Wenn es gelingt, den Elektrizitätsbedarf bei 100 Prozent Erneuerbaren von 1.200 Terawattstunden auf etwa die Hälfte zu senken (dies wäre bereits mehr als der heutige Stromverbrauch), können erhebliche Investitionen in Erzeugungs- und Speichertechnologien eingespart werden. Unter anderem werden deutlich weniger Photovoltaik-Anlagen, Wasserstoff-Turbinen und Elektrolyseure zur Erzeugung von Wasserstoff benötigt. Auf Investitionen in Windenergie auf See und in das Stromnetz könnte dann weitgehend verzichtet werden. „Unsere Untersuchung bestätigt: ‚Renewable Sufficiency first‘ ist das richtige Rezept für eine kosteneffiziente und ressourcenschonende Energiewende“, unterstreicht Claudia Kemfert. 

Die Studie wurde in Kooperation mit der 100 prozent erneuerbar stiftung durchgeführt und vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) sowie dem Bündnis Bürgerenergie begleitet. 

„Für den BUND bestätigt sich einmal mehr: Der vorgesehene Netzausbau ist vollkommen überdimensioniert und tut der Energiewende nicht gut“, sagt Olaf Bandt, Vorsitzender des BUND. „Wir fordern Bundesregierung und die Bundesnetzagentur auf, die Netzausbauplanung gründlich zu überarbeiten und dabei die Erkenntnisse dieser Studie zu befolgen: Die Kosten für den Ausbau, Betrieb und die Weiterleitung des Stroms müssen bei der Szenarienentwicklung für das beste Stromnetz berücksichtigt werden. Dann werden wir zu Lösungen kommen, die mit deutlich weniger Ausbau des Stromnetzes auskommen.“

Malte Zieher, Vorstand des Bündnis Bürgerenergie ergänzt: „Die Forderung, man müsse mit dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien warten, bis das Netz weiter ausgebaut ist, gehört mit dieser Studie endgültig in die Mottenkiste. Wir sehen aber auch: Netzausbau kommt nicht nur den Netzbetreibern selbst zugute, sondern auch den Entwicklern von Windparks auf See. Beides sind Monopolindustrien. Dezentralität macht hingegen mehr Investitionen in Windparks an Land, Solaranlagen auf Dächern und Batteriespeicher möglich, die von und mit den Bürgerinnen und Bürgern realisiert werden. Daher ist für uns klar: Statt auf Netzausbau sollte der Fokus auf die dezentrale Teilhabe durch Bürgerenergie gelegt werden.“

Hintergrund zur Studie:

Die Studie analysiert erstmals Szenarien, bei denen sowohl Europa als auch Deutschland, aufgeteilt in 38 Regionen, eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien erzielt. Die Analyse beruht auf dem Energiesystemmodell AnyMOD, welches für eine gegebene Energienachfrage einen kostenminimalen Erzeugungsmix ermittelt. Das Modell verfügt über eine stündliche Auflösung für die Strom- und eine vierstündige Auflösung für die Wärmeversorgung sowie eine tägliche Auflösung für den Verkehrs- und Gassektor. Das Energiesystemmodell berücksichtigt neben der konventionellen Stromnachfrage sämtliche Aspekte der Sektorenkopplung, unter anderem durch zusätzliche Energienachfrage aus den Industrie- und Gebäudesektoren als auch aus der Mobilität. Dadurch können sowohl Effizienzgewinne als auch das Flexibilitätspotential durch die Elektrifizierung abgebildet werden und erlauben eine integrierte Betrachtung. Darüber hinaus beinhaltet das Modell eine stilisierte Betrachtung des deutschen Höchstspannungsnetzes; auch dieses ist in den europäischen Kontext eingebunden. 

Mehr Informationen

Quelle: Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND), 28.4.2021
www.bund.net

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