Der Strom fließt nicht dahin, wo der Markt ihn hin verkauft

klimareporter.de

Im Norden und Osten gibt es Solar- und Windstrom im Überfluss, im Süden ist der Strom dagegen knapp. Lokale Strombörsen-Preise könnten einen wirtschaftlichen Ausgleich ermöglichen, sind aber politisch umstritten.

von Stefan Schroeter

An manchen Tagen scheint die Sonne kräftig, und es weht ein frischer Wind. Solar- und Windparks produzieren dann viel Strom. Besonders im Norden und Osten Deutschlands können sie an solchen Tagen oft mehr Solar- und Windstrom liefern, als in diesen Regionen selbst verbraucht werden kann.

Es ist aber nur sehr eingeschränkt möglich, den Solar- und Windstrom aus dem Norden und Osten in andere Regionen Deutschlands zu transportieren. Dafür reichen die überregionalen Höchstspannungs-Stromleitungen bisher nicht aus. Das gilt vor allem für die Leitungen, die nach Süddeutschland führen. Dort gibt es große Ballungszentren mit viel Industrie und hohem Strombedarf.

So entstehen im Norden und Osten zeitweise regionale Stromüberschüsse, die sich auf den wirtschaftlichen Wert des Stroms auswirken. In den Überschuss-Zeiten ist dieser regionale wirtschaftliche Wert des Stroms gering.

In anderen Regionen trifft dagegen ein hoher Stromverbrauch auf ein begrenztes Angebot. In diesen Knappheits-Regionen hat Strom einen höheren wirtschaftlichen Wert als in den Überschuss-Regionen.

Auf diesen wirtschaftlichen Zusammenhang weisen zwölf Energieökonominnen und ‑ökonomen hin. Dabei sprechen sie sich für Strompreise aus, die Angebot und Nachfrage regional ausgleichen und dadurch den lokalen Stromwert widerspiegeln. „Der Strompreis an der Börse sollte dort höher sein, wo gerade hohe Nachfrage herrscht, und dort niedrig, wo in diesem Moment ein Überangebot vorliegt“, schreiben sie.

Überfluss-Strom ist besonders teuer

Derzeit gilt an der Strombörse ein einheitlicher Großhandelspreis für Deutschland, der unabhängig von regionalen Überschüssen, Transport-Engpässen und Knappheiten ermittelt wird. Aus Sicht der Strombörse hat er sich bewährt, und von der Bundesregierung wird er politisch unterstützt.

Auch die süd- und westdeutschen Landesregierungen wollen den einheitlichen Großhandelspreis bewahren. Von nord- und ostdeutschen Landesregierungen ist er allerdings auch schon deutlich infrage gestellt worden.

Grund dafür ist, dass die regionalen Hochspannungsnetze im Norden und Osten besonders stark ausgebaut werden müssen, damit der viele erneuerbare Strom auch transportiert werden kann.

Dieser Netzausbau kostet viel Geld und schlägt sich in hohen regionalen Netzentgelten nieder, die in die Strompreise für Endkunden einfließen. Damit ist Strom in den besonders aktiven Ökostrom-Ausbauregionen besonders teuer, obwohl er hier im Überfluss verfügbar ist.

Um diesen Widerspruch aufzulösen, arbeitet die Bundesnetzagentur derzeit an einer Reform der Netzentgelte. Im Mai dieses Jahres hat sie dazu den Entwurf einer Festlegung veröffentlicht, über die sie im Spätsommer endgültig entscheiden will. Die damit möglichen Entlastungen sollen dann ab Jahresanfang 2025 wirken.

Der einheitliche Großhandels-Strompreis ist allerdings auch noch mit anderen Widersprüchen und Schwierigkeiten verbunden. Dazu zählt der Widerspruch zwischen finanziellem Stromhandel und physikalischer Wirklichkeit im überregionalen Höchstspannungsnetz.

Die Illusion des Strommarktes

Denn im Großhandel der deutsch-luxemburgischen Preiszone wird Strom so gekauft und verkauft, als ob er ohne die tatsächlich bestehenden Netzengpässe von jedem Ort der Erzeugung an jeden Ort des Verbrauchs geliefert werden könnte.

„Der Strommarkt gibt sich also der Illusion hin, es gäbe immer ausreichend Kapazitäten zur Durchleitung“, schreiben die zwölf Wissenschaftler. Gleichzeitig warnen sie: „Diese Illusion wird sich angesichts der großen Herausforderungen im Strommarkt nicht mehr lange aufrechterhalten lassen.“

Das einheitliche Preissignal führe dazu, dass die Teilnehmer des Strommarktes häufig Entscheidungen treffen, die im bestehenden Netz physikalisch unmöglich und volkswirtschaftlich unsinnig seien. Als Beispiel schildern sie eine Situation, in der es an der Strombörse einen moderat hohen Strompreis gibt:

„Kraftwerke und Windparks im Norden Deutschlands erzeugen dann viel Strom, obwohl er nicht in die Verbrauchszentren des Südens abtransportiert werden kann. Gleichzeitig stehen Gaskraftwerke in Bayern still, sodass die lokale Stromnachfrage nicht gedeckt werden kann.

Pumpspeicherkraftwerke im Schwarzwald pumpen trotz der Stromknappheit in Süddeutschland Wasser in die Berge und intelligente Elektroautos in Stuttgart laden ihre Batterien auf, weil der für sie sichtbare Strompreis niedrig ist – in Wirklichkeit erreicht der günstige Windstrom Baden-Württemberg jedoch gar nicht.“

Reparaturmaßnahmen kosten jährlich Milliarden

Diese Widersprüche zwischen Netzphysik und Marktdesign müssen die Betreiber der Übertragungsnetze mit einer Reihe von Maßnahmen ausgleichen. Dazu zählt der sogenannte Redispatch: Kraftwerke in Süddeutschland werden auf Anordnung hochgefahren, Windparks in der Nordsee abgeregelt. Die einen bekommen für die Produktion mehr Geld als den einheitlichen Strompreis, die anderen bekommen Geld dafür, dass sie nicht produzieren.

Diese Praxis bezeichnen die Autorinnen und Autoren als „kostspielige und komplexe Redispatch-Reparatur“. Das belegen auch Zahlen der Bundesnetzagentur. Demnach mussten die Stromnetzbetreiber allein im Jahr 2023 für das „Netzengpassmanagement“ 3,1 Milliarden Euro aufwenden. Auch diese Kosten werden auf die Netzentgelte umgelegt – wenn auch bundesweit gleichmäßig.

Die Energieökonomen setzen sich dafür ein, dass der Weg frei gemacht wird für Strompreise, die Angebot und Nachfrage regional ausgleichen und dadurch den lokalen Stromwert widerspiegeln. Solche lokalen Strompreise bedeuten ihrer Ansicht nach auch, dass neue Industrie-Investitionen vom lokalen Grünstromüberschuss profitieren können.

Wer dagegen heute in Mecklenburg in Wasserstoffherstellung, Rechenzentren oder grüne Stahlfabriken investiere, zahle immer den deutschlandweiten Preis. Das gelte selbst dann, wenn in der Region Strom im Überfluss vorhanden sei und der Windpark nebenan abgeregelt werde.

Wirtschaftsverbände warnen vor unterschiedlichen Strompreisen

Demgegenüber haben elf Wirtschaftsverbände gemeinsam vor der Aufteilung der einheitlichen deutschen Strompreiszone gewarnt. Die negativen Auswirkungen auf die Realwirtschaft seien nicht abzusehen und würden etwaige Vorteile überlagern, schreiben sie in einer Stellungnahme.

Die Verbände der Energiewirtschaft – darunter der Erneuerbaren-Verband BEE – sowie der Auto-, Elektro-, Agrar- und Chemieindustrie zeigen sich überzeugt, dass es bessere Möglichkeiten gibt, um die Energiewende voranzutreiben, gleichwertige Lebensverhältnisse zu fördern und hochwertige Beschäftigung zu sichern.

Eine Aufteilung der Preiszone könnte sich negativ auf die Erzeuger von erneuerbarem Strom auswirken, argumentieren sie: Bei einem Überangebot an grünem Strom würden die Strompreise in Zonen mit hohem Anteil erneuerbarer Energien drastisch und sprunghaft fallen. Zum anderen würden in Gebieten mit geringeren Erneuerbaren-Mengen die Strompreise deutlich ansteigen.

In anderen Ländern gibt es bereits Erfahrungen mit regionalen Preiszonen. In Europa zählen dazu Dänemark, Norwegen, Schweden und Italien. In den USA haben viele Strommärkte zunächst ihre Preiszonen geteilt, um dann noch lokalere Preise auf Ebene der Netzknoten einzuführen – das sogenannte „Nodal Pricing“.

Eine Studie der TU München hat inzwischen ergeben, dass sich solche knotenscharfen Strompreise auch in Deutschland günstig auswirken könnten.

EU-Überprüfung soll dieses Jahr abgeschlossen werden

Die Europäische Kommission will regionale Preiszonen voranbringen, um den europaweiten Stromtransport und -handel zu verbessern. Denn die Widersprüche zwischen finanziellem Stromhandel und Netzphysik haben auch dazu geführt, dass viele grenzüberschreitende Stromleitungen zwischen Nachbarländern überwiegend durch unkontrollierte Ringflüsse blockiert werden. Damit sind sie nur eingeschränkt für kontrollierte Lieferungen verfügbar, die der grenzüberschreitende Stromhandel braucht.

Schon seit mehreren Jahren läuft deshalb eine EU-weite Preiszonen-Überprüfung, englisch Bidding Zone Review, an der sich die vier Betreiber der deutschen Höchstspannungs-Übertragungsnetze beteiligen. Dabei soll ermittelt werden, ob die deutsch-luxemburgische Preiszone erhalten bleiben kann – oder ob sie in zwei bis fünf Zonen aufgeteilt werden soll.

Der aktuelle Zeitplan sieht vor, dass die Übertragungsnetz-Betreiber ihre Empfehlung für die Preiszonengestaltung bis zum Ende des Jahres vorlegen. Das Gleiche gilt für die Netzbetreiber in anderen EU-Ländern. Danach müssen sich die Regierungen der Mitgliedsstaaten im Laufe des Jahres 2025 auf eine politische Entscheidung einigen.

Quelle: www.klimareporter.de, 23.8.2024

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