Christian Lindner wider Windenergie und Wirtschaft in NRW

Mit einem beherzten Tritt auf die energie­politische Bremse will die neue „NRW-Koalition“ die Energie­wende im Energie­land NRW zum Still­stand bringen. Bei der Vorstellung des Koalitions­vertrages für NRW am 26. Juni hat der FDP-Bundes­vorsitzende Christian Lindner harsch gegen die Wind­energie gewettert.

Vielleicht fällt es mitunter schwer, die Argumente auseinanderzuhalten, wenn man ständig und überall als FDP-Frontmann für die eigene Partei aktiv ist: In diesem Fall gegen Innovationen, gegen Fortschritt, gegen eine zukunftsgerichtete Energiepolitik. Denn nichts anderes ist es, was derzeit in Nordrhein-Westfalen geschieht. Die neue Landesregierung hat einen unmissverständlichen Koalitionsvertrag vorgelegt. Zwar bekennt man sich darin zum Pariser Weltklimaabkommen, sieht im Wärmemarkt die größten Potentiale zur Treibhausgasminderung und will NRW zum führenden Land im Bereich der E-Mobilität aufbauen.

Doch leider vergisst man mit den Erneuerbaren Energien die wesentliche Basis, damit diese Ziele und Schritte erfolgreich umgesetzt werden können. Während im Koalitionsvertrag „hocheffiziente und klimafreundliche Kraft-Wärme-Kopplung-Anlagen (KWK) als wesentliches Element für den erfolgreichen Neustart der Energiewende“ ausdrücklich unterstützt und die Braunkohle als einziger heimischer und zugleich wettbewerbsfähiger Rohstoff im Koalitionsvertrag gepriesen wird, klingen die Worte zu den Erneuerbaren Energien geradezu defensiv. Ihr Ausbau soll „technologieoffen“ und im Rahmen des energiepolitischen Dreiecks vorangetrieben werden.

Von expliziten Sätzen zur Solarenergie, einer Technologie, in die weltweit mittlerweile die größte Summe neuer Kraftwerksinvestitionen fließt, findet man gar keine Spur im Koalitionsvertrag. Dabei hat die Photovoltaik gerade in Nordrhein-Westfalen erhebliches Potential – ob auf Dächern von Industrie- und Gewerbeimmobilien oder auf Eigenheimen und Mietshäusern. Aber auch die Worte Biogas oder Wasserkraft sucht man auf den knapp fünf Seiten zu „Industrie und Energie“ vergeblich. Stattdessen eine halbe Seite voller Maßnahmen gegen eine andere zentrale Säule der Energiewende – die Windenergie.

Der Paukenschlag kommt schon im ersten Spiegelstrich: Das Ziel, 1,5 Kilometer Mindestabstand zu allgemeinen und reinen Wohngebieten festzusetzen. Schon bei der Vorstellung der Verhandlungsergebnisse hatte Christian Lindner gegenüber der Presse dargelegt, dass man damit die restriktivsten Bestimmungen in ganz Deutschland haben würde. 80 Prozent der Potentialflächen für Windenergie sollen damit wegfallen. Ein offener Widerspruch zu anderen grundsätzlichen Zielen des Koalitionsvertrages, namentlich die Wirtschaft entfesseln, Baurecht vereinfachen und Genehmigungsverfahren beschleunigen zu wollen. Und zugleich ein extremer Kurswechsel in NRW, den Herr Lindner als „neue Akzente in der Energiepolitik“ umschreibt. Trotz dieser Akzentverschiebung bestehe aber kein Zweifel daran, „dass NRW seine Klimaziele erreichen will“ (so Lindner). Tatsächlich? Die konkrete Rechnung dazu wird die neue Regierung bald darlegen müssen. Dabei wird nicht einmal helfen, dass die Klimaschutzziele selbst heruntergeschraubt werden. So soll das Landesklimaschutzgesetz von Regelungen „befreit“ werden, die über Ziele und Maßnahmen der Europäischen Union hinausgehen. Ganz im Sinne des Naturschutzes versteht sich, den der FDP-Vorsitzende Lindner scheinbar immer gerade dann entdeckt, wenn es um den Bau von Windrädern in ökologisch weniger bedeutsamen Nadelwäldern geht.

Ein weiterer Widerspruch, denn selbst Natur- und Umweltschutzverbände, wie NABU und BUND in NRW, tragen die Nutzung der Windenergie auf solchen Flächen unter Wahrung der geltenden strengen Genehmigungsauflagen mit. Dabei kritisiert Christian Lindner, dass „riesenhafte Anlagen“ mitten in den Naturraum Wald gebaut werden. Während die Waldregionen unter den Windrädern jedoch ohne Probleme weiter nutzbar sind, werden bei der zugleich befürworteten Braunkohlenutzung aktuell ganze Wälder für immer dem Erdboden gleichgemacht.

Die Vermutung liegt nahe, dass Lindners rhetorische Angriffe gegen die Windenergie im Land Schwung für die Bundestagswahl bringen sollen: sozusagen ohne Windenergie mit Rückenwind in den Bundestag. Anders kann man sich die haltlosen Äußerungen jedenfalls nicht erklären. Von teurem Windstrom war in einer Videobotschaft die Rede, der in NRW „zwar produziert und vom Bafög-Empfänger und der Rentnerin bezahlt werden musste, aber nicht genutzt und nicht gespeichert werden konnte“. Lindner weiter: „Und es stehen auch nicht die Leitungskapazitäten zur Verfügung, um diese Energie dorthin zu bringen, wo sie benötigt wird.“ Auch hier argumentiert Lindner im Widerspruch – dieses Mal zu den energiewirtschaftlichen Fakten. Denn Abregelungen sind hier in NRW irrelevant.

Nur 0,4 Prozent des bundesweit abgeregelten Stroms aus Erneuerbaren Energien entfielen laut Bundesnetzagentur 2016 auf NRW. Dementsprechend gering sind die Kosten dafür. Auch die Speicherung und vermeintlich fehlende „Leitungskapazitäten“ sind im energieintensiven Industrieland NRW kein Thema – der Strom wird hier erzeugt und kann auch hier von den vielen Verbrauchern direkt abgenommen werden. Und die starke hiesige Netzinfrastruktur verfügt auch in Zukunft weiterhin über hohe Aufnahmekapazitäten. NRW ist also gut aufgestellt, wenn es um den weiteren Ausbau der Windenergie hier im Land geht.

Lindners Argumentation zeigt aber noch einen weiteren Widerspruch: Es solle doch im Norden zugebaut werden, da gebe es schließlich Wind, so Lindner. War nicht gerade noch die Rede von fehlenden Leitungskapazitäten? Hier träfe dies dann tatsächlich zu, denn die großen Übertragungsnetze vom Norden in den Süden fehlen. So entfielen fast drei Viertel aller abgeregelten Kilowattstunden aus Erneuerbare-Energien-Anlagen im letzten Jahr auf Schleswig-Holstein. Ein Grund mehr, den klimafreundlichen Windstrom nicht allein im Norden, sondern dezentral in NRW zu erzeugen, wo er auch benötigt wird.

Dagegen die Windenergiebranche, als Hauptträger neuer  Kraftwerksinvestitionen und verantwortlich für fast 20.000 Arbeitsplätze in NRW, durch restriktivste Bestimmungen im Zubau auszubremsen, schadet dem Land im Wettbewerb um die energiewirtschaftliche Wertschöpfung von Morgen. Eine Entwicklung, die klar gegen die Standortinteressen Nordrhein-Westfalens gerichtet ist! Dabei droht NRW mittelfristig auch industriepolitisch ins Hintertreffen zu geraten, wenn Industrieunternehmen zukünftig dorthin umsiedeln, wo günstiger regenerativer Strom in hohen Mengen zur Verfügung steht. Ein waghalsiges Unterfangen der NRW-Koalition, die Wertschöpfung und Chancen dieser Entwicklung anderen Bundesländern zu überlassen.

Schon heute ist in Nordrhein-Westfalen die Stromproduktion aus Windenergie- oder Photovoltaik kostengünstiger möglich, als in neuen Gas- oder Steinkohlekraftwerken – und das trotz der derzeit gegebenen Dumpingpreise für eine Tonne CO2 im europäischen Zertifikatehandel. Zugleich zeigen die Prognosen für die Erzeugungskosten aus Wind und Sonne weiter nach unten. So konnten die Hersteller von Windenergieanlagen bereits in der Vergangenheit deutliche Kostensenkungen erreichen, weil Sie extra für das Binnenland optimierte Windräder entwickelten. Und Herr Lindner verschweigt natürlich, dass bei den fossilen Energiepreisen eine realistische Betrachtung der damit verbundenen externen Kosten weiterhin unterbleibt. Eine ebenfalls industriepolitisch riskante Strategie, da so die Abhängigkeit und Anfälligkeit der Wirtschaft von klimapolitischen Entscheidungen zementiert wird. Vielmehr wäre ein angemessener Mindestpreis für CO2 bzw. eine entsprechende CO2 -Lenkungsabgabe die richtige Antwort.

Ob nun CO2-Preis oder Windenergieausbau: Bei allem Diskussionsbedarf um die konkrete Ausgestaltung der Energiewende gehört es zu einer fairen und verantwortungsvollen Auseinandersetzung, die Energiepolitik des Energielandes NRW an die energiewirtschaftlichen Realitäten anzupassen, statt sie mit plakativen, widersprüchlichen und zum Teil sachlich falschen Botschaften zu führen. Eine Vollbremsung des Windenergieausbaus in NRW wäre schon angesichts ihrer zentralen Bedeutung für eine gelingende Energiewende sowie der damit verbundenen Wirtschafts- und Industriezweige in NRW fatal. Einen solchen Schritt dann noch mit Mythen, statt mit Fakten zu begründen, sich in internen Widersprüchen zu verfangen und das Ganze dann vielsagend als „neuen Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie“ zu verkaufen, ist nicht tragbar. In diesem Sinne wäre es begrüßenswert, wenn man in den kommenden Monaten zu einer sachlichen und konstruktiven Diskussion zurückkehren könnte.

Hierzu hat Christian Lindner selbst eigentlich schon einen guten Auftakt geliefert. Zitat aus seiner Videobotschaft: „Aus dem Grund mal eine Klarstellung: Gegen Windenergie spricht überhaupt nichts – eine moderne, saubere Form der Energieerzeugung.“ Punkt.

Jan Dobertin ist Geschäftsführer des Landesverbands Erneuerbare Energien NRW e.V. (LEE NRW).
Quelle: www.energiezukunft.eu, 03.07.2017

 

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